Geräuschüberempfindlichkeiten

Geräusch(über)empfindlichkeit: Hyperakusis, Phonophobie und Misophonie

Wenn jemand zur falschen Zeit Rasenmäht, der Nachbar von oben Frühschicht hat und um halb fünf Uhr morgens durch die Wohnung stampft, oder plötzlich Flugzeuge über das eigene Schlafzimmer fliegen: Lärm stresst extrem und irgendwo wird immer gebohrt (sollten Sie in einem Mehrparteienhaus wohnen, wissen Sie, was ich meine…). Dafür müssen die Geräusche nicht mal laut sein. Auch ein leise tropfender Wasserhahn, den man kaum wahrnimmt, wenn andere Geräusche vorhanden sind, kann in der Stille Nerven kosten.

Problematisch wird es dann, wenn Alltagsgeräusche sehr negative emotionale Reaktionen auslösen. Wer bei dem Geräusch spielender Kinder immer höheren Bluthochdruck bekommt und den Kleinen am liebsten mit Panzertape den Mund zukleben möchte, könnte sich in einer Spirale befinden, an deren Ende dieser Plan wirklich zur Umsetzung kommt. Auch ganz normale Geräusche, wie Staubsaugen, Geschirrspülen oder Lachen, können bei einigen Personen extreme Reaktionen auslösen: entweder Flucht, Rückzug und Vermeidung, oder Wut, Stress und Angriff.

Fluglärm, für einige der Inbegriff des akustischen Horrors. Bild: Fraport in Frankfurt am Main

Vor allem eine immer stärker werdende Vermeidung von bestimmten Geräuschen deutet auf eine Geräuschüberempfindlichkeit hin. Da es verschiedene Arten davon gibt, gehe ich im Folgenden auf alle davon ein. Zunächst aber ein bisschen Theorie zur Entstehung der Probleme.

Medizinische Hintergründe

Grundlage für eine erhöhte Geräuschempfindlichkeit ist oft ein Phänomen namens „Recruitment“. Dabei reagiert das Gehirn auf eine vorliegende (leichte oder schwere) Hörminderung, indem es für das Hören betroffener Bereiche mehr Nervenzellen aus benachbarten Bereichen einsetzt. Dadurch erscheinen Geräusche lauter, als sie eigentlich sind und die Unbehaglichkeitsschwelle (der Punkt, ab dem Geräusche als unangenehm empfunden werden) senkt sich immer mehr ab. Dies liegt daran, dass bei vielen Hörschäden zunächst die Hilfszellen im Ohr (diese sind auch Haarzellen, die einkommende Töne abschwächen, oder verstärken) zerstört werden und einkommende Geräusche nicht mehr moduliert werden. Schädlich ist Recruitment nicht, aber es kann recht unangenehm sein.

Daneben hat auch das Gehirn selbst einen großen Einfluss auf die empfundene Lautstärke von Geräuschen. Normalerweise filtert das Gehirn sehr viele Dinge raus, die für uns nicht relevant sind.  Leicht zu bemerken ist dies bei Feiern und Partys. Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer Gruppe von Menschen, die sich miteinander unterhalten. Sie selbst sprechen mit einer Person, neben Ihnen unterhalten sich andere. Sie bekommen in dieser Situation wahrscheinlich nicht genau mit, worüber sich die Personen neben Ihnen unterhalten, da Ihre Aufmerksamkeit auf Ihr eigenes Gespräch gerichtet ist. Das ändert sich sofort, wenn die Personen neben Ihnen plötzlich Ihren Namen nennen und sich offensichtlich über Sie unterhalten. In diesem Moment ändert das Gehirn automatisch den Fokus und stellt Ihr Hören auf die Personen neben Ihnen ein. Dieser „Partyeffekt“ bezeugt, dass Ihr Gehirn alle Informationen ständig in „wichtig“ und „unwichtig“ einteilt und Ihnen nur diese bewusst werden, die als „wichtig“ erkannt wurden.

Am lautesten werden nun die Geräusche hervorgehoben, die das Gehirn als „gefährlich“ eingestuft hat. Es will uns beschützen und vor einer möglichen Bedrohung warnen. Dabei sind vor allem die Dinge relevant, die uns Angst machen. Wer Angst vor Gewitter hat, hört den Donner schon viel früher, als Menschen die Gewitter mögen. Wer Angst vor Hunden hat, hört überall Hunde bellen. Wer eine negative Erfahrung mit Rettungswagen gemacht hat, wird das Signal des Martinshorns sehr viel lauter empfinden.

Auf Grund dieses Mechanismus können auch Menschen ohne Hörminderung eine starke Geräuschüberempfindlichkeit entwickeln. Es bildet sich zunächst eine Hyperakusis.

Hyperakusis

Eine Hyperakusis liegt immer dann vor, wenn Geräusche als so störend wahrgenommen werden, dass sie vermieden werden. Dies bedeutet oft einen sozialen Rückzug: Situationen, die früher als normal oder sogar angenehm empfunden wurden, werden plötzlich so unangenehm, dass sie nicht mehr aufgesucht werden. Früher waren Geburtstage spaßig, heute nerven Feiern nur noch. Früher war Staubsaugen kein Problem, heute muss das jemand anders machen. Früher waren Konzerte die Highlights des Jahres, heute ist das alles viel zu laut geworden. Die Lust an lauten Dingen teilzuhaben nimmt immer mehr ab.

Die Geräuschempfindlichkeit ist hierbei oft sehr breit aufgestellt: laute Geräusche generell werden als störender empfunden, die Unbehaglichkeitsschwelle insgesamt ist immer niedriger. Das hat Auswirkungen auf das gesamte Leben. Dieses wird leiser gestaltet, laute Situationen, wenn möglich gestrichen und Ausreden gefunden, wenn doch mal eine lautere Aktivität ansteht.

Genau hier liegt dann auch der Kern des Problems: Eine Vermeidung und ein Rückzug bringen dem Gehirn immer mehr bei, dass laute Umgebungen wirklich schädlich sind. Dadurch werden laute Dinge als gefährlich eingestuft und zusätzlich verstäkt. Zudem macht das Gehirn laute Situationen durch negative Vorahnungen („bei der Feier wird es bestimmt sehr laut“, „Samstags ist es in der Stadt bestimmt unerträglich“…) zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Je mehr vermieden wird, desto schlimmer wird die Hyperakusis.

Emotional passiert hierbei auch einiges, allerdings werden die Emotionen nicht extrem. Das heißt laute Geräusche können auch mal ausgehalten werden, allerdings führen sie zu einem erhöhten Unwohlsein. Menschen mit Hyperakusis haben das Gefühl, dass die Welt immer lauter wird und früher niemals so laut war. Sie beschäftigen sich manchmal auch mit lauten Phänomenen (Flugzeuggeräusche, Straßenverkehr, Windkraftanlagen…) und die Lautstärke von Dingen spielt für sie eine immer größere Rolle.

Wenn sich die Emotionen bezüglich der Geräusche verstärken, oder sich ganz extrem auf bestimmte Geräusche richten, entwickeln sich weitere Probleme: Phonophobie und Misophonie.

Phonophobie

Die krankhafte Angst vor bestimmten Geräuschen nennt man Phonophobie. Die vorherrschende Emotion ist natürlich die Angst, mit all ihren Spielarten. So kann es von lähmender Furcht bis hin zur panischen Flucht zu allen angstbezogenen Verhaltensweisen kommen. Oft tritt eine Phonophobie in Verbindung mit einem traumatischen Erlebnis auf, manchmal wird sie aber auch „angezüchtet“.

Sehr häufig kommen Phonophobien in Verbindung mit PTBS (Posttraumatischer Belastungsstörung) vor. Ehemaliges militärisches Personal erlebt bei Knallgeräuschen oft Wiedererinnerungen an Kriegserlebnisse. Das Gehirn öffnet dann die Schublade der Erinnerungen und spielt im schlimmsten Fall absoluten Horror ab. Aber auch Unfälle, andere Phobien (Hunde, Flugreisen, soziale Phobie, …) und negative Lebensereignisse können Phonophobien auslösen.

Wie bei der Hyperakusis findet eine Spirale der Verschlimmerung statt, da diese Geräusche ganz aktiv vermieden werden und für das Gehirn zu absoluten Vorboten der Hölle eingestuft werden. Ich selbst habe schon miterlebt, wie sich eine Person bei einem Spaziergang hinter einen Busch geflüchtet hat, weil ein Rettungswagen vorbeifuhr. Es kann also auch zu sehr starken körperlichen Reaktionen kommen.

Misophonie

Bei der Misophonie steht die Wut als Basisemotion im Vordergrund. Menschen mit diesem Problem hassen bestimmte Geräusche und gehen aktiv gegen sie vor. Ein Mensch, der wegen dem Geräusch spielender Kinder anfängt aus dem Fenster zu brüllen und die Kinder mit dem Tode zu bedrohen leidet höchstwahrscheinlich unter einer Misophonie. Wenn diese Person nun ein Luftgewehr nimmt und auf die Kinder schießt (wie es wirklich schon vorgekommen ist), kann diese Diagnose wohl als gesichert betrachtet werden.

Der Hass auf die Geräusche ist oft so groß, dass der gesunde Menschenverstand ausgeschaltet wird und Aggressivität die Handlungsweise bestimmt. Diese muss nicht immer körperlich ausgelebt werden, sondern kann auch zu anderen Handlungen führen. Die Polizei fast täglich wegen störender Geräusche anzurufen ist ein guter Hinweis auf diese Problematik.

Eine Misophonie verstärkt sich oft mit der Zeit. Wenn die als Hassobjekt eingestuften Geräusche immer mehr vermieden werden, die Beschäftigung damit weiter zunimmt und die Gedanken sich auch in neutralen und sogar positiven Situationen fast ausschließlich um die Geräusche drehen, obwohl diese nicht vorhanden sind, kann von einer manifesten Misophonie ausgegangen werden.

Lösungsansätze für Geräuschüberempfindlichkeiten

Glücklicherweise gibt es gute Behandlungsmethoden für den Umgang mit den verschiedenen Arten von Geräuschüberempfindlichkeit. Diese haben gemeinsam, dass die Geräusche „normalisiert“ werden müssen. Das bedeutet, dass Vermeidung und Rückzug aufgehoben werden sollten. Auch eine Beschäftigung mit den emotionalen Hintergründen ist sinnvoll.

Das Problem dabei ist, dass leicht gesagt werden kann „suchen Sie die Geräusche aktiv auf und alles wird besser“, es wirklich zu tun aber für Betroffene alles andere als leicht ist! Das Gehirn beschließt in der Konfrontation, dass etwas absolut nicht stimmt und wird versuchen die Situation so schnell wie möglich zu beenden. Dabei ignoriert es häufig auch getroffene Vorsätze.

Laute Geräusche gehören zum Leben dazu und können viel Spaß machen! Bild: Konzert in Dortmund

An dieser Stelle komme ich ins Spiel.

Ich unterstütze Sie dabei die Hintergründe der Geräuschempfindlichkeit zu erkunden und bespreche mit Ihnen Möglichkeiten, wie Sie sich graduell (langsam und vorsichtig) wieder an die Geräusche gewöhnen können. Dies wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber mir ist wichtig Ihnen Übungen für den Alltag mitzugeben, damit Sie auch völlig ohne mich weiter an Ihren Herausforderungen arbeiten können. Gemeinsam finden wir einen Weg, dass Geräusche wieder angenehmer für Sie werden und Sie die richtige Waage an Lautstärke für sich persönlich finden!